Hesinde, die Allweise, segne Euch! Ihr wolltet erfahren, wer ich bin und ich sage Euch: Wenn Ihr nicht den Anfang erkennt, werdet ihr das Ende nicht wahrnehmen können! Daher erzähle ich Euch nun, wie ich zu dem wurde, der ich bin, welche Ereignisse mein Leben prägten und ich hoffe, Euch wird Erkenntnis zuteil. Setzt Euch und lauschet, denn Hesinde gewährt jenen Einsicht, die zum Zuhören und Lernen bereit sind.
I. Eine kleine Familie
Meine Eltern waren beide Gelehrte und standen daher dem Immerwährenden Hort der Hesindianischen Gaben natürlich sehr nahe. Mein Vater hieß Lanvolo Castanyeda und war ein Völkerkundler, der sich auf die Erforschung der Kultur der Zahori und der Tulamiden spezialisiert hatte. Er verbrachte in jüngerem Alter viel Zeit mit Reisen und begleitete einige Sippen der Zahori eine Zeitlang, bis er sich schließlich in Punin niederließ und an seinem Buch Die Geschichte und Traditionen der Zahori und verwandter Kulturen zu schreiben begann, aus dessen Verkauf er genügend Einkünfte erzielte, um einen angenehmen Lebensabend verleben zu können und seine kleine Familie zu ernähren.
Im Puniner Schlangentempel ging er den Hesindebund vor den Priestern der Mutter der Weisheit mit meiner Mutter Jamala Castanyeda ein, die zwar bedeutend jünger war als er selbst, aber als Medica mindestens ebenso gelehrt und ihre intellektuellen Dispute sind mir immer noch lebhaft in Erinnerung geblieben.
Einige Jahre darauf sollte ich geboren werden und schon früh begannen meine Eltern damit, mir die Freuden der Gelehrsamkeit nahe zu bringen und mir das Lesen und Schreiben zu lehren und mich in philosophische Dispute einzubinden – trotz der Tatsache, dass ich noch als kleines Kind zu bezeichnen war.
Geschwister sollte ich keine haben, viel zu früh empfingen meine Eltern Borons Gnade, doch dies will ich später erläutern. Auch sonst lernte ich keine Verwandschaft kennen, denn meine Mutter hatte sich von ihrer Familie los gesagt, wohingegen mein älterer Vater seine Angehörigen allesamt überlebt hatte. Er erzählte mir jedoch oft von meinem Großvater Haldaro, der selbst ein Magier gewesen sei, der dereinst beinahe zum Hofmagus von Kaiser Reto erwählt worden war.
Ein guter Freund meiner Eltern war der Hesinde-Geweihte Kazanyo Ossentani, der in meinem weiteren Leben eine noch viel bedeutendere Rolle einnehmen sollte.
II. Ein schreckliches Ereignis, das bekannt war und ein gütiger Ziehvater
Als fromme Gläubige planten meine Eltern eine Pilgerfahrt zu den Hallen der Weisheit in Kuslik. Ich war erst sechs Götterläufe alt, doch träumte ich zuvor von ihrer Reise und war nach meinem Traum fest davon überzeugt, dass meine Eltern auf dieser Reise in Borons Arme geraten würden. Ich weinte und flehte, meine Eltern mögen von dieser Reise absehen, doch mein Traum wurde nur als Alptraum gedeutet und ich verbliebt in der Obhut von Mentor Kazanyo, während meine Eltern ihre Pilgerfahrt unternehmen wollte. Ich weinte, als ich mich von ihnen verabschiedete, denn ich war mir gewiss, dass ich sie zum letzten Male sehen würde.
Tatsächlich sollte dies wohl der erste Ausbruch meiner prophetischen Gabe sein, die mir später bewusst offenbar werden sollte. Meine Eltern wurden nur wenige Meilen von unserer Heimat Punin entfernt von räuberischem Gesindel überfallen und als mein Vater sich zur Wehr setzt, wurden beide getötet, beinahe so, wie es mir im Traume erschienen war.
Da Seine Gnaden Mentor Kazanyo meinen Eltern gelobt hatte, sich um mich zu kümmern, wurde er daraufhin zu meinem Ziehvater und erzog mich „in dem Geiste, in dem deine Eltern es wohl gewollt hätten“, wie er es mir gegenüber formulierte. Er führte meine Ausbildung fort, lehrte mich die Weisheiten der Hesinde-Kirche, disputierte mit mir über allerlei Dinge und erzog mich zu einem gelehrten und frommen Jüngling. Es dauerte nicht lange und ich entwickelte gegenüber diesem weisen und gütigen Mann Gefühle, wie ich sie dereinst gegenüber meinen Eltern hegte.
Mentor Kazanyo war ein Philosoph und versuchte stets, die Weisheit Hesindes in allen Werken und Dingen zu erkennen und eine ähnliche Sichtweise der Dinge brachte er auch mir bei. Er lehrte mich verschiedene Wissenschaften, damit es mir möglich sei, die Weisheit, die alle verbindet, zu erkennen. Regelmäßige Gottesdienste waren ebenfalls Teil meiner Erziehung, was auch schon bei meinen leiblichen Eltern der Fall war, aber, wenn man von einem Diener der Herrin der sechs Künste erzogen wird, dann ist der Gottesdienst ein täglicher Begleiter.
III. Das Noviziat
Nach meiner Initiation in den Kult der Hesinde mit meinem zwölften Tsatag, die auf mein Bitten hin, von meinem Ziehvater Kazanyo selbst ausgeführt wurde, erklärte dieser mir, dass ich geeignet sei, das Noviziat in der Heiligen Kirche der Großen Weberin anzutreten, um dereinst selbst zu einem Diener der Allwissende Schlangen zu werden. Stolz stimmte ich zu und erhielt die niederen Weihen zum Scholaren im Immerwährenden Hort der Hesindianischen Gaben.
Ich erhielt eine Ausbildung, die sich mancher Gelehrter wohl wünschen möge, wurde in Architektur, Geschichtslehre, Magischer Theorie, Mechanik, Botanik, Juristik, Astronomie und Zoologie unterwiesen. Ich lernte die Künste der Niederen Alchimie, der Malerei und der Musik. Aber mein hauptsächliches Interesse galt der Philosophie. Ich bemerkte, dass in Paradoxa tiefere Weisheiten enthalten waren, als sie durch Worte auszudrücken waren.
Bei Meditationen erfuhr ich, wie ich meine prophetische Gabe bewusst erwecken konnte. Sprachen und Schriften verschiedenster Art wurden mir nahe gelegt.
Einer der Höhepunkte meines Noviziates war jedoch ein Besuch in der Magierakademie zu Punin, der Academia Arcomagica Scholaque Arcania Puniniensis, wo mir die Ehre zuteil wurde, bei einem theologischen Disput mit Magister Magnus Salandrion Finkenfarn über die Differenzen zwischen der hesindianischen Lehre und der sogenannten Magierphilosophie beizuwohnen und sogar aktiv daran teilzunehmen. Dieser gelehrte Disput nährte meine philosophischen Studien und ich verbrachte einige Stunden der Meditation damit, die Konsequenzen dieser recht götterungefälligen Philosophie zu verinnerlichen. Mentor Kazanyo lehrte mich stets, alle Dinge und Ansichten unvoreingenommen zu betrachten und diese Lehre, in Kombination mit der logischen Rethorik seitens Magister Finkenfarns warf mich eine zeitlang in eine tiefe Glaubenskrise. Erst ein Traum der Allweisen – ich war wohl „versehentlich“ bei einer Meditation entschlafen – führte mich zurück auf den rechten Weg.
IV. Prüfung, Weihe und weitere Studien
Ein ganzes Jahr lang diente der Vorbereitung auf meine Weihe zum Mentor. Die vier hohen Feste der Allwissenden dienten meiner Vorbereitung und schließlich sollte ich mit Mentor Kazanyo nach Kuslik in die Hallen der Weisheit reisen, wo ich geprüft und, wenn möglich, geweiht werden sollte.
Furcht überkam mich ob dieser Reise, denn ich erinnerte mich an den Schicksalsschlag, der auf einer ähnlichen Reise meine Eltern traf. Doch es sollte uns kein Übel auf unserer Reise widerfahren.
In Kuslik eingetroffen nahmen wir an den Feierlichkeiten zum Erleuchtungsfest teil und nachdem ich meditiert hatte, führte Mentor Kazanyo mich zum Custodes und übergab mich der Verwantwortung des Mannes, der mich mit strengen Blicken musterte. Er prüfte mich, indem er micht bat, die Taten der Heiligen der Hesinde zu rezitieren. Nach kurzem Durchatmen besann ich mich auf meine Lehren und begann mit Sankt Ingalfs Leben, doch bevor ich zu den Taten der Heiligen Canyzeth übergehen konnte, unterbrach der Custodes meinen Vortrag und sprach sein „dignus est“ über mich. Er führte mich zum Bibliothecarius, der meine nächste Prüfung durchführen sollte. Nach einer kurzen philosophischen Diskussion, die mir ewig lange währte, sprach auch dieser sein „dignus est“. Er und der Custodes führten mich zur Erhabenen, der Magisterin der Magister, die mir das Buch der Schlange überreichte, während mir mein Schlangenhalsband aus grünem Zinn angelegt wurde. Tiefe Erkenntnis und die Nähe der Göttin durchströmten mich und ich wusste zu diesem Zeitpunkt, dass die Allweise Herrin mir stets nahe sein würde.
Ich vebrachte im folgenden noch einige Jahre in Kuslik, um in der gewaltigen Bibliothek der Hallen der Weisheit zu studieren. Ich lehrte Theologie für die Novizen in der Halle der Metamorphosen und Transmutationen, wie sie Unserer Herrin Hesinde und den Meistern der Elemente wohlgefällig sind, gestiftet zu Kuslik von Seiner Weisen Magnifizenz Rohal I; vormals: Accademia Magica Mutanda Forumque Metamorphoses Cusliciensis – Akademie der verändernden Magie und Halle der Metamorphosen zu Kuslik, bis ich schließlich zu der Erkenntnis gelangte, dass in den Weiten der Welt noch mehr Weisheiten verborgen sein müssten.
V. Forschungsreisen
Nun habe ich mich vor Kurzem auf Reisen begeben, um die Welt zu erforschen, tiefere Einsichten zu gewinnen und einen Blick auf die Weisheit zu werfen, die allerorten in der Welt verborgen sein mag.